Erinnern und Gedenken – Die Todesmärsche des KZ Flossenbürg im April 1945
von Claudia Heigl
In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges wartete die Bevölkerung unserer Region mit großer Ungewissheit auf das Eintreffen der amerikanischen Truppen. In dieser angespannten Zeit erreichte die Nachricht das Dorf, dass sich auf der Bundesstraße 20 von Cham in Richtung Straubing eine große Menschenmenge bewegte. Es handelte sich um Häftlinge des Konzentrationslagers Flossenbürg, die auf einem sogenannten Todesmarsch nach Dachau getrieben wurden.
Seit 1938 hatte die SS in Flossenbürg Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen zur Zwangsarbeit im Granitsteinbruch eingesetzt – mit dem Ziel, wirtschaftlichen Profit zu erzielen. Ab Mitte 1944 begann die systematische Räumung der Konzentrationslager im von Deutschland besetzten Europa. Auch Flossenbürg wurde zu einem Sammelpunkt: Kurz vor Kriegsende befanden sich dort fast 46.000 Gefangene.
Im April 1945, als die alliierten Truppen näher rückten, begann die SS mit der Auflösung des Lagers und seiner Außenstellen. Tausende Häftlinge wurden auf chaotische Märsche geschickt – zu Fuß oder in offenen Güterwaggons. Die Routen dieser Todesmärsche führten durch viele Orte der Oberpfalz und Niederbayerns – auch durch unsere Heimatgemeinden.
Am 23. April 1945 zogen Kolonnen erschöpfter Männer über die alte B20 durch Gschwendt, Wolferszell und Agendorf in Richtung Straubing. Viele Häftlinge waren zu entkräftet, um weiterzugehen. Wer zusammenbrach, wurde oft sofort von SS-Wachleuten erschossen – und am Wegesrand liegen gelassen. In Gschwendt wurden sieben dieser Opfer gefunden, in Wolferszell sechzehn, in Steinach fünf. Ein weiteres Opfer wurde im Juli im Schwarzhölzl entdeckt.
Die Zeitzeugen-Berichte aus Wolferszell und Steinach wurden von Guido Scharrer in seiner Schrift „Todesmärsche aus dem KZ Flossenbürg durch die Stadt Straubing und den Landkreis“ veröffentlicht:1
Wolferszell / Steinach:
Vergebliches Rufen nach Wasser und Brot
Ende April 1945 ging es in unserem Dorf Wolferszell drunter und drüber. Täglich zogen unzählige Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten durch, und alle bettelten um Brot und etwas Suppe. Auch viele deutsche Soldaten marschierten auf ihrem Rückzug vor dem nahenden Feind kolonnenweise durch. Alles, was sich auf der Straße oder dem Feld bewegte, wurde durch die vielen Tiefflieger immer wieder beschossen.
Dann plötzlich trat eines Tages völlige Ruhe ein, eine Ruhe, die uns beunruhigte! Mein Vater sagte: „Eine trügerische Ruhe! Da passiert noch was!“ Auf einmal sahen wir auf der Straße von Gschwendt einen nicht enden wollenden Zug schwarz gekleideter Personen um die langgezogene Kurve neben Wolfsberg auf unser Dorf zukommen. Mein Vater rief: „Jetzt kommen auch noch Altötting-Wallfahrer aus Cham! Ja san denn de narrisch, de Chamerauer?“ Um diese Jahreszeit hielten nämlich die Chamer tatsächlich immer ihre Fußwallfahrt nach Altötting ab, sodass wir wirklich alle glaubten, dieser Zug seien Wallfahrer.
Als die Zugspitze ins Dorf gelangte, sahen wir erst, dass es keine Wallfahrer waren. Wir erblickten eine riesige Zahl von Männern, die in einer Dreierreihe auf der Straße schweren Schritts dahintrotteten. Begleitet wurde der Zug rechts und links von bewaffneten SS-Wachsoldaten. Die Gefangenen waren in lange, dunkle Mäntel gehüllt. Sie machten einen erbärmlichen Eindruck. Ihre Gesichter waren hohl und total abgemagert. Jede dieser Gestalten kam mir vor wie der leibhaftige Tod. Immer wieder hörte ich zaghafte, bettelnde Rufe nach Brot und nach Wasser. Ich ging sogleich ins Haus und holte einen Laib Brot. Als sich die Hände der Hungernden nach dem gereichten Brot ausstreckten, sprang sofort ein SSler zu mir, stieß mich zur Seite und drohte mir mit dem vorgehaltenen Gewehr.
Er sagte: „Das da sind alles Verbrecher! Die da sind schuld am Krieg! Sie sind schuld, dass deine Brüder im Krieg geblieben sind!“ Ich war ganz verblüfft über diese Rede und dachte mir – ich war ja gerade erst 16 Jahre alt – in meiner jugendlichen Gutgläubigkeit: „Der kennt sogar meine Brüder, dann wird’s schon wahr sein, was er sagt!“ Tatsächlich waren zwei Brüder von mir im Krieg gefallen.
So beobachteten wir tatenlos mit stummem Entsetzen das müde Vorbeiziehen der Männer. Wir wollten ihnen gerne helfen, aber angesichts der drohenden Gewehre trauten wir uns einfach nicht. Wir hörten auch immer wieder Schüsse. Später entdeckten wir die Leichen erschossener Gefangener. Sie wurden, wenn sie nicht mehr dem Zugtempo folgen konnten oder wenn sie vor Schwäche zu Boden sanken, von den SS-Soldaten mit einem Genickschuss erschossen und neben der Straße oder im Straßengraben einfach liegengelassen.
Aber auch dieser schreckliche Tag ging schließlich zu Ende. Als wir nach der Stallarbeit noch in der Küche zusammensaßen, hörten wir plötzlich ein heftiges Klopfen an der versperrten Haustür. Ich schloss auf, und im Nu füllte sich der Gang mit fünf Männern aus dem Zug der Gefangenen. Sie drängten mich in die Küche und verlangten mit drohenden Gebärden und barscher Stimme Brot und Eier. Unsere Mutter öffnete ihnen gleich die Speisekammer. Die Männer durchsuchten sie hastig nach allem Essbaren und räumten sie binnen weniger Sekunden gründlich aus. Dann verschwanden sie in der Dunkelheit in Richtung Wald.
Später erfuhren wir den Hintergrund dieser Begebenheit: Auf ihrem Marsch nahe bei Gschwendt waren die Gefangenen von Tieffliegern beschossen worden. Offensichtlich hatte man sie für deutsche Soldaten gehalten. Bei diesem Beschuss mussten auch die den Zug begleitenden SS-Soldaten in Deckung gehen. Diese Gelegenheit nutzten fünf der Gefangenen aus und verkrochen sich im Unterholz. Als dann die Luft rein war, versuchten sie abends, im Dorf etwas Essbares zu bekommen. Ihr plötzliches Auftreten erschreckte uns sehr, doch sie wandten keinerlei Gewalt an, sondern verschwanden nach ihrem „Mundraub“ sofort wieder. Ob sie den Zug überlebt haben, weiß ich nicht. Wir sahen und hörten nie mehr etwas von ihnen.
Am nächsten Tag erhielten die alten Männer im Dorf – die jungen waren ja alle noch im Krieg – vom Ortsgruppenleiter den Auftrag, die erschossenen Gefangenen entlang der Straße aufzulesen und im Wald zu begraben. Mein Vater war damals auch bei dieser Totengräbergruppe. Man sammelte die Leichen auf dem Gemeinde- bzw. Pfarreigebiet von Gschwendt bis hinter Steinach (ungefähr dort, wo heute die Autobahn ist) entlang der Straße (heute die B 20) ein und lud sie auf einen hölzernen Wagen. Darauf wurden die Toten im sogenannten Bauernhölzl hinter Wolfsberg mitten im Wald notdürftig ganz flach eingegraben, damit nicht Hunde oder Füchse die Leichen zerfetzen konnten. Die Stelle, wo die etwa 20 bis 30 toten Gefangenen vergraben wurden, weiß ich noch heute ganz genau. Auf diesem Platz mitten im Wald wächst heute noch kein einziger Baum – nur Brennnesseln!
Nach ein paar Wochen, Anfang Juni, mussten die alten Männer unseres Dorfes, nun auf Befehl der inzwischen einmarschierten Amerikaner, die Toten wieder ausgraben. Das kam den Totengräbern aber viel härter an als das vorherige Eingraben, denn die Leichen waren schon ziemlich stark verwest. Mein Vater, der zu Lebzeiten keinen Schnaps trank, leerte während der Ausgrabungsarbeiten mit seinen Kollegen eine ganze Flasche Schnaps aus, damit er den durchdringenden süßen Leichengeruch einigermaßen aushalten konnte. Er zog aus den Manteltaschen einiger Toter Papiere heraus, damit man vielleicht die Personen identifizieren konnte. Doch die Amerikaner machten dazu überhaupt keine Anstalten. Und weil aber auch diese Papiere so unerträglich stanken, verbrannte er sie kurzerhand im Küchenherd. Selbst der hölzerne Wagen, mit dem die halbverwesten Leichen gefahren worden waren, verlor nach mehreren Tagen diesen furchtbaren Geruch noch nicht.
Die Leichen der erschossenen Gefangenen wurden nun in einer würdigen, alle tief ergreifenden Totenfeier an der Nordmauer des Steinacher Friedhofes bestattet. Das geschah ungefähr vier Wochen nach dem Marsch der Gefangenen durch unser Dorf. An dieser Trauerfeier nahmen sehr viele Dorfleute aus Wolferszell und Steinach teil, und alle zeigten tiefe Trauer und Betroffenheit über den Tod dieser armen Gefangenen.
(Gesprächsprotokoll mit Frau R.W., Wolfsberg)
Wolferszell:
Gespenstische und erschütternde Szenen
An den 23. April 1945 kann ich mich noch gut erinnern. Ich war damals 27 Jahre alt. Mein Mann war als Soldat im Krieg, und ich mußte mit meinen kleinen Kindern unsere Landwirtschaft erhalten. Die Tage vor dem 23. April waren sehr bewegt und chaotisch. Tiefflieger schossen auf alles, was sich im Dorf oder auf dem Feld bewegte. Unzählige Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten mußten notdürftig mit ein bißchen Essen versorgt werden. In unserem kleinen Anwesen herrschte an diesen Tagen ein furchtbares Getümmel von Menschen auf der Flucht vor dem Krieg. Unter den Flüchtlingen waren viele kranke Kinder, die mir sehr leid taten. Das tagelange unruhige Leben vor dem besagten 23. April ließ mich kaum zum Schlafen kommen. Dann auf einmal, an diesem 23. April, war es ganz „staad“. Diese plötzliche Stille wirkte auf uns aber nicht beruhigend, ganz im Gegenteil! Sie kam uns unheimlich vor, und wir alle warteten nun auf ein schreckliches Ende. An diesem Tag beobachteten wir ein einziges amerikanisches Aufklärungsflugzeug, das immer wieder über dem Spitalholz kreiste. Was es da auskundschaftete, ahnten wir nicht. Hinterher allerdings war uns klar, daß die Amis den nahenden Zug der KZler für deutsche Soldaten hielten.
Gegen ½ 5 Uhr abends sah ich vom Zimmer aus, wie zwei alte Nachbarinnen ganz gespannt in Richtung Gschwendt schauten. Ich wollte auch sehen, was die beiden beobachteten, und ging vors Haus zum Gartentürl. Da sah ich auf der Straße einen langen Zug von menschlichen Gestalten daherkommen. Es mochten mehrere hundert Personen gewesen sein. Auf beiden Seiten wurde der Zug von SS-Wachsoldaten begleitet, die alle Maschinenpistolen mit sich trugen. Die Leute, die sie auf dem Marsch begleiteten, sahen entsetzlich aus, wie wandelnde Leichen. Ihre Gesichter waren total ausgemergelt. Die Sonne, die an diesem Tag schon sehr kräftig schien, hatte sie auf dem langen Marsch aufgebrannt. Ich konnte nicht unterscheiden, ob es Männer oder Frauen waren, denn diese vom Tod gezeichneten Gesichter schauten alle gleich aus. Bekleidet waren die Armen mit völlig zerlumpten dunklen Mänteln, auch gestreifte Sträflingskleidung sah man. Die wundgelaufenen Füße steckten in zerfetzten Schuhen.
Die ganze Kolonne bewegte sich nur sehr langsam vorwärts. Es war kein Marschieren in geordneten Reihen mehr, vielmehr ein dumpfes Dahinwanken, ein müdes, hoffnungsloses Dahin-„Schloipfen“. Viele entkräftete Männer wurden von anderen in die Mitte genommen, einer hielt den anderen, und so schleppten sie sich gegenseitig den ganzen Weg entlang.
Ich sah, wie auf der anderen Straßenseite eine Nachbarin einen Krug mit Wasser holte und ihn den halbverdursteten Gefangenen reichen wollte, um wenigstens ihren Durst zu lindern. An diesem Tag war es nämlich schon sehr warm gewesen. Aber sofort trat ein SS-Wachsoldat mit seiner MP im Anschlag hinzu und trieb sie zurück. Er sagte uns dann auch, daß diese erbarmungswürdigen, elenden Gestalten lauter Verbrecher seien, denen wir vor allem diesen Krieg zu verdanken hätten.
Ich wußte allerdings schon damals ganz genau, daß es seit Jahren KZs gab, wo Tausende von Menschen umkamen. Das KZ Auschwitz kannte ich vom Hörensagen. Daher konnte ich mir nun beim Marsch dieser Menschen ein ganz anderes Bild machen als das, welches uns der SS-Wachsoldat vorlog.
Kurze Zeit später wiederholte sich diese gespenstische und erschütternde Szene, und eine zweite Marschkolonne wurde durch unser Dorf in Richtung Straubing getrieben. Ob ursprünglich beide Kolonnen zusammenhingen, weiß ich nicht. Vielleicht wurde der Marsch wegen der drohenden Tieffliegergefahr geteilt.
In meiner nächsten Nähe wurde kein Häftling erschossen. Ich weiß nur von den Berichten anderer Augenzeugen aus unserem Dorf, daß die Männer, die vor Schwäche nicht mehr weiterkonnten und zu Boden fielen, sofort an Ort und Stelle durch Genickschüsse umgebracht wurden. Ein paar Tage später, nicht schon am nächsten Tag, mußten die alten Männer unseres Dorfes auf Befehl des Ortsgruppenleiters diese erschossenen Menschen aufsammeln und im nahen Wald bei Wolfsberg verscharren.
Das schaurige Bild des hoch mit den Leichen der erschossenen Gefangenen beladenen Leiterwagens kann ich nie vergessen. Die Toten lagen wirr durcheinander auf dem hölzernen Wagen. Die Leichenstarre gab ihnen groteske Körperhaltungen. Ihre bis auf die Knochen abgemagerten, steifen Arme und Beine ragten gespenstisch zwischen den Leitersprossen hindurch.
Soviel ich weiß, wurden die Toten nicht identifiziert. Die Totengräber erzählten, daß sie bei einer Leiche ein Gebetbuch gefunden hatten. Wir nahmen deshalb an, daß dieser Mann vielleicht ein Priester gewesen sein könnte, denn ich wußte, daß auch Pfarrer wegen ihrer Predigt gegen das NS-Regime ins KZ kamen.
Die Bilder dieses Todesmarsches werde ich, solange ich lebe, nicht loswerden. Die Erinnerung an diese erbarmungswürdigen Menschen schmerzt mich noch heute. Daß diese Toten nicht vergessen werden, dafür habe ich als Zeitzeugin von diesem Erlebnis erzählt, obwohl die neuerliche Vergegenwärtigung dieses schrecklichen Geschehens aufs neue weh tut und bis ins Innerste betroffen macht.
(Gesprächsprotokoll mit Frau M. Z., Wolferszell)
Wolferszell:
Genickschuss vor den Augen des Zehnjährigen
Hunderte von Männern wurden auf der Straße von Geschwendt nach Straubing durch unser Dorf getrieben. Sie wurden von SS-Soldaten mit aufgepflanzten Gewehren rechts und links im Abstand von etwa 30 m begleitet. Die ausgemergelten Gefangenen – es waren tagsüber nur Männer – sahen sehr heruntergekommen und zerlumpt aus. Sie waren sehr schwach und körperlich am Ende. Viele gingen barfuß, andere hatten nur mehr völlig zerfetzte Schuhe an. Der lange Zug der Gefangenen kam auf seinem Weg direkt an unserem landwirtschaftlichen Anwesen vorbei. Unser altes Haus stand unmittelbar neben der Straße, so daß wir die vorbeigehenden Männer vom Stubenfenster aus bereits sehen konnten. Wir liefen vors Haus, um alles genauer sehen zu können. Der Anblick der entkräfteten Gefangenen erschütterte mich und meine Kinder sehr.
Den Männern stand buchstäblich der Tod ins Gesicht geschrieben. An einen Gefangenen erinnere ich mich noch besonders gut, und das sich uns bietende schreckliche Bild ging uns sehr nahe: Der Gefangene hielt ein Büschel Gras in seiner dürren Hand und biß davon ab. Andere Gefangene deuteten wortlos mit zusammengelegten Daumen, Zeige- und Ringfinger immer wieder an ihren Mund und zeigten uns mit dieser Geste an, daß sie hungrig waren. Ich sagte daraufhin zu meinen Kindern: „Den Armen muß man doch helfen! Ich geh und hole einen Laib Brot!“ Unser Nachbar von nebenan hörte meine Rede und sagte mir, daß das streng verboten ist. Wenn ich dabei erwischt werde, würden mich die SS-Soldaten erschießen.
Gegenüber unserem Hof steht die Kapelle neben dem Gasthaus Schmid. Dort sahen wir, wie einer der Gefangenen zur Seite wankte. Er wurde sofort von einem Soldaten durch das Genick erschossen und liegengelassen. Mein damals zehnjähriger Sohn mußte das aus allernächster Nähe mitansehen und rannte darauf mit einem Schock weinend und schreiend zu mir. Wir gingen ins Haus, weil wir die schrecklichen Bilder nicht mehr ertragen konnten. Ich sagte zu meinen Kindern: „Warum muß man denn Menschen nur so quälen?“ Nach wenigen Minuten hörten wir bereits wieder einen Schuß. Später fand man einen weiteren erschossenen Gefangenen einige 100 Meter außerhalb des Dorfes in Richtung Straubing am Straßenrand liegend.
Bei den Gefangenen tagsüber sah ich nur Männer. Abends nach Einbruch der Dunkelheit kam dann ein Zug mit gefangenen Frauen. Das war gerade um die Stunde, als in Steinach das Schloß lichterloh brannte. (Die SS hatte hier viele Dokumente aus München eingelagert. Damit diese nicht in die Hände der anrückenden Amerikaner fielen, steckte die SS das Schloß in Brand). Anm. W. Biela
Als die vorbeiziehenden Frauen den Schein der Flammen sahen, hörte ich eine Frauenstimme ausrufen: „Da hinten brennt’s!“ Ob der Ausruf von einer Gefangenen oder von einer begleitenden Wärterin kam, konnte ich nicht erkennen.
Am anderen Tag mußten die alten Männer im Dorf – die jungen waren alle noch im Krieg – die Leichen der erschossenen Gefangenen auf einen hölzernen Truhenwagen laden. Sie fuhren die Strecke von Gschwendt bis hinter Steinach ab und warfen die Toten mit Schwung auf die Wagenbrücke. Soweit ich weiß, sollen es an die 30 Leichen gewesen sein. Sie wurden im Heimerl-Holz nordwestlich von Wolfsberg provisorisch etwa 30 cm tief eingegraben. Nach einigen Wochen mußten sie die Toten wieder ausgraben. Diese Arbeit kostete sie wegen des inzwischen sehr starken Verwesungsgeruchs große Überwindung. Die Leichen wurden dann in den Steinacher Friedhof transportiert und dort hinter der Friedhofsmauer in einem Massengrab beerdigt.
(Gesprächsprotokoll mit Maria Foidl, Wolferszell)
Steinach:
Schrecken über riesige Menschenmenge
Tief erschüttert bin ich noch heute von einem Vorkommnis wenige Tage vor Ankunft der Amerikaner. Es wurde bekannt, daß sich auf der Bundesstraße 20 von Cham nach Straubing eine riesige Menschenmenge wälzte. Es waren – wie wir später erfuhren – Häftlinge aus dem Konzentrationslager Flossenbürg, die über Straubing nach Dachau getrieben werden sollten. Auch ich (damals 19 Jahre alt) sah den Elendszug vom Oberen Dorf aus. Mit Schrecken in den Augen kamen abends meine Cousinen von der Post herauf. Sie waren an diesem Tag mit den Fahrrädern in Straubing und mußten auf der Heimfahrt mit ansehen, wie von den begleitenden Wachmannschaften Häftlinge, die nicht mehr weiterkonnten, mit Genickschuß getötet wurden. Im Bereich der Pfarrgemeinde lagen über 30 getötete Menschen in ihren gestreiften Anzügen. Die Partei ordnete an, daß sie auf Fuhrwerke verladen und auf dem hiesigen Friedhof verscharrt wurden. Später grub man sie wieder aus und brachte sie an andere Orte.
(Bericht von Hans Kirmer, Steinach, nach Unterlagen von Hans Agsteiner, Münster)
Am folgenden Tag erhielten die alten Männer im Dorf - die Jüngeren waren noch im Krieg – den Befehl die Leichen zu bergen und im Wald zu begraben. Entlang der Strecke von Gschwendt bis hinter Steinach wurden die Toten aufgesammelt, auf einen hölzernen Wagen geladen und im sogenannten Bauernhölzl bei Wolfsberg in flachen Gräbern verscharrt.
Am 1. Juni 1945, nun auf Anordnung der amerikanischen Militärbehörden, mussten die Toten erneut ausgegraben werden. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurden sie würdevoll an der Nordmauer des Steinacher Friedhofs beigesetzt – ein bewegendes Zeichen der späten Menschlichkeit.
Pfarrer Aschenbrenner, der selbst unter dem NS-Regime schwer gelitten hatte und mehrfach denunziert worden war, hielt die Ereignisse im Sterbebuch der Pfarrei fest:
„28 namenlose Männer, die am 23. April 1945 auf der Straße erschossen und liegen gelassen wurden, wurden in der Nähe, von hier gefunden, vergraben, weil die Leute sie nicht in den Friedhof zu bringen trauten aus Furcht vor den überall sich findenden SS (Partei) Leuten, die ein Schreckensregiment führten.
Am 1. Juni 1945 wurden sie alle ausgegraben: 7 in Gschwendt, 16 in Wolferszell, 5 bei Steinach.
Beerdigt am 1. Juni 1945 in friedlicher Weise; anschließend feierliches Amt. Beteiligung der Leute groß; Kinder trugen Kränze und Blumen.“
16.07.1945: „1 namenloser Mann erst am 16. Juli 1945 im Schwarzhölzl aufgefunden ohne jegliches Zeichen“
Am 28. September 1956 wurden die Überreste auf den KZ-Friedhof Flossenbürg überführt.
Zum bleibenden Gedenken errichtete die Gemeinde Steinach im Jahr 2005 eine Gedenktafel am Friedhof – als Zeichen der Erinnerung und Mahnung an die Opfer dieses unmenschlichen Geschehens.
1 Scharrer Guido, Todesmärsche aus dem KZ Flossenbürg durch die Stadt Straubing und den Landkreis, 1995, ISBN 3-9802955-8-3