Dr. Wilhelm Matthießen

(1891 - 1965)

 

Ein rheinischer Schriftsteller in Steinach

 

 

Der Rheinländer Wilhelm Matthießen kam während des Zweiten Weltkriegs mit seiner Frau Carola nach Steinach und blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1965. Mehr als zwanzig Jahre lebte er hier, wichtige Werke entstanden, die Steinacher kannten und schätzten ihn. Auch seine Frau lebte und starb in Steinach. Sie liegt neben ihm auf dem hiesigen Friedhof begraben. Woher aber kam Wilhelm Matthießen, welches waren seine Werke, worin liegt seine Bedeutung?

Geboren wurde Matthießen am 8.8.1891 als Sohn eines Rechtsrates in dem kleinen Eifelort Gemünd. Die Versetzung seines Vaters nach Düsseldorf brachte den Besuch des dortigen Gymnasiums mit sich. Studiert hat Matthießen in Bonn und Berlin Theologie, Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1917 promovierte er in Bonn mit der Dissertation „Die Form des religiösen Verhaltens bei Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus“ zum Doktor der Philosophie. Schon während seiner Gymnasialzeit hatte Matthießen viel beachtete Gedichte und Erzählungen, aber auch die Übertragung der Hymnen des Kanonikers und Lyrikers Adam de Saint Victor (gestorben 1146 in Paris) veröffentlicht. Nach seiner Promotion zog er mit seiner Frau Carola nach München und lebte dort bis 1924 als freiberuflicher Wissenschaftler und Schriftsteller. In den Münchner Jahren, in der Atmospäre der damals so blühenden und vielgesichtigen Kunstszene, entstand ungeachtet anfänglicher materieller Sorgen ein umfangreiches wissenschaftliches und literarisches Werk.

 

mathiessen wilhelm

Dr. Wilhelm Matthießen (1891-1965)

 

 

In rascher Folge gab Matthießen mehrere Schriften des Arztes, Philosophen und Theologen Theophrast von Hohenheim (1493-1541) im Rahmen einer Gesamtausgabe heraus. Es folgten die derbe Sittengeschichte „Grobianus“ von Friedrich Dedekind (1525-1598), die Fabeln von Erasmus Alberus (1500-1563), der seine Gleichnisse als propagandistisches Mittel in der Reformation gegen die katholische Seite benutzte sowie „Das wunderbarliche Vogelnest“ von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1622-1676), dem Autor des Simplizius-Simplizissimus-Romans.

In den Münchner Jahren entstand auch ein Zyklus von phantastisch-grotesken Geschichten, in denen ein seltsamer Detektiv philosophische und religiöse Probleme zu lösen hatte. Genannt seien der „Der große Pan“, „Der schwarze Hund“ und „Die Sintflut“. Selbst sagte der Autor über seine Grotesken: „Es ging mir weniger um den Tod als um das Leben, zwar nicht um das persönliche, sondern um die Ewigkeit und Unzerstörbarkeit des Seins an sich, das sich bei allem Wandel der Gestalt immer wieder aus sich erneuert - ... Das Thema Gott.“

1926 verfasste er „Das Totenbuch“, eine Sammlung geheimnisvoller Geschichten, die die Bedeutung und das Rätsel des Todes ergründen und ihm seinen Schrecken nehmen: „Tod und Traum, wir grüßen Dich, der Seligen Leben ihr.“ Erst im Tod wird  das Geheimnis der „verhüllten Gottheit enthüllt.“ Während das Individuum in den „lachenden Himmel“ eingeht, „ist und lebt alles, was einer mit der ganzen Kraft seines Herzens schuf“.

Berühmt wurde Matthießen durch seine Jugend - und Kinderbücher. 1923 schrieb er „Das alte Haus“, ein Märchenbuch für die Jugend. In bewusster Schlichtheit der Sprache entstand ein Buch, das vom ersten bis zum letzten Satz vorzulesen und ausschließlich für die Jugend bestimmt war, im Gegensatz zu den Märchen der Brüder Grimm, die nicht von vornherein zur Kinderunterhaltung gedacht waren. „Das alte Haus“ stellt einen Märchenzyklus dar, der durch eine jahreszeitlich unterlegte Rahmengeschichte verbunden ist. Es wird keine mahnende Pädagogik vermittelt, trotzdem gelingt es dem Autor, über die Märchenhandlung Verhaltensmuster für das Kind zu schaffen: sei es im Sozialverhalten oder durch Beispielsgeschichten, die die Chance des Schwachen aufzeigen, mit Intelligenz dem Stärkeren widerstehen zu können. Gefahren werden nicht verharmlost, sondern bedrohen die Figuren, die jedoch aufgrund ihrer Gewitztheit, ihres Muts und ihrer „Menschlichkeit“ unter positiver Fügung des Schicksals allen Anfechtungen trotzen können.

Neue Kinderbücher entstanden: „Die grüne Schule“ (1929) und „Die Katzenburg“ (1928). Letzteres fußte auf den familiären Erlebnissen des Dichters, der 1924 von München wieder in das Rheinland gezogen war und dort im Kottenforst bei Bonn in einem Waldhäuschen mit seiner Familie lebte – mittlerweile waren seine Söhne Helmut und Paul geboren.

1928 schrieb Matthießen den umfangreichen historischen Roman „Görres“ über den katholischen, in Koblenz geborenen Publizisten, Gymnasial- und Universitätslehrer.

Matthießen schildert hier das Leben von Joseph Görres (1776-1848), der anfangs begeistert für die Ideen der Französischen Revolution und die Eingliederung des linken Rheinufers in Frankreich eintrat, sich dann jedoch, nach einer Zusammenkunft mit Napoleon, enttäuscht vom revolutionären Gedankengut abwandte und sich als Physiklehrer in Koblenz verdingte. Von Ludwig I. von Bayern wurde Görres schließlich an die Universität in München berufen. Im Mittelpunkt des Romans aber steht die Rückkehr Görres’ zum Katholizismus.

Aufsehen erregte im selben Jahr der in der Kölnischen Volkszeitung veröffentlichte satirische Roman „Die Badewanne“. Anhand eines grotesk überzeichneten Familienstreites, der sich über einer nur scheinbar beschädigten, verliehenen Zinkbadewanne entzündet, zeigt Matthießen die Schwächen des Spießbürgertums der Weimarer Republik auf. Selbstgefälligkeit, Intoleranz und Angeberei werden ebenso angeprangert wie die gesellschaftliche Reaktion auf den Familienstreit, die durch die Massenmedien unterstützte Sensationsgier  und die Suche nach Idolen. Der große Erfolg bei den Lesern ließ bei der Ufa den Plan entstehen, den Roman zu verfilmen. Dass die seit 1933 regierenden Nationalsozialisten den Angriff auf ihre vom Kleinbürgertum geprägte Vorstellungswelt ebenso wenig wie irgendeine andere Kritik duldeten, bewirkte das Scheitern dieser Pläne.

So verlagerte sich Matthießens Schreibtätigkeit nun stärker auf die Jugendbuchliteratur, zumal ihm 1932 mit dem Jugendroman „Das rote U“ der größte Erfolg gelungen war. Darin entlarvt unter der anonymen Führung ihres behinderten Klassenkameraden Ulrich eine Schülergruppe eine Verbrecherbande. Neben dem Abbau von Vorurteilen, der Integration von Behinderten und der Entwicklung von sozialen Fähigkeiten geht es in dem Buch auch um eine spannende Geschichte, die der Erfahrungswelt der Jugend trotz Kriminalhandlung nicht zuwiderläuft. Glaubwürdigkeit verleiht dem Buch zudem der Umstand, dass der Autor Erlebnisse aus seiner Düsseldorfer Gymnasialzeit darin verarbeitet hat.

Während des Nationalsozialismus konnte Matthießen fast nur noch Jugendbücher veröffentlichen. So nahm er während des 2. Weltkriegs die Stelle eines Bibliothekars in München an, eine Tätigkeit, die ihn nach Steinach führte, wo er im Neuen Schloß ausgelagerte Bücherbestände zu verwalten hatte.

Nach 1945 galt die Arbeit des Schriftstellers zum einen der Umarbeitung seiner früheren Jugendbücher, zum anderen der Fortführung seines literarischen Gesamtwerkes. Er verfasste eine über 1000-seitige Gesellschaftsutopie sowie einen umfangreichen Familienroman. Daneben hielt Matthießen Vorträge, schrieb eine Fortsetzung zu „Das alte Haus“ und Hörspiele. Für einen Verlag arbeitete er zeitweise als Lektor. Der Tod seiner Frau Carola im Jahr 1952 traf ihn sehr. Auch machte ihm sein Gesundheitszustand zunehmend zu schaffen. In den letzten Lebensjahren war seine Gehfähigkeit eingeschränkt. Dies bremste seinen Arbeitseifer nicht. Häufig empfing der Autor Besuche von Schriftstellern, Bekannten und Literaturfreunden. Der groß gewachsene Mann verstand es mit seinem Intellekt, seiner Ruhe und seiner packenden Erzählweise die Zuhörer in seinen Bann zu ziehen. Bis zum Schluss war er bemüht, sein Lebenswerk abzurunden und die großen Prosawerke abzuschließen. Beides war ihm noch vergönnt, bevor er am 11. November 1965 im Krankenhaus Bogen starb.

Über eine Million verkaufter Exemplare und Übersetzungen seiner Bücher, darunter ins Französische, Englische, Spanische und Japanische, zeigen, dass sein Werk (vor allem: Das Rote U, Das alte Haus, Die grüne Schule, Das Mondschiff) nicht nur im deutschsprachigen Raum gern gelesen wurde und auch heute noch seine Anhänger findet.

 

 

Verfasser: Dr. Wilhelm Matthiessen, Enkel des Schriftstellers.

 

Der oben stehende Text wurde erstmals in Hans Agsteiners Heimatbuch „Steinach“ (1996) veröffentlicht und im Januar 2023 überarbeitet.